Das Jahr 2005

Es ist erstaunlich wie langsam aber sicher sich diese Stadt verändert hier ein Café, dort ein Restaurant mehr, renovierte Fassaden, die Schuhe der Frauen werden flacher, die Koteletten der Männer länger – es macht richtig Spaß, jedes Jahr etwas Neues zu entdecken.
Dieses Jahr steht der Vergleich zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen im Vordergrund unseres Besuches. Unsere Gastgeber haben im Vorfeld allerhand in Bewegung gesetzt und es tatsächlich geschafft, eine „Audienz“ beim BRSM – dem einzig anerkannten staatlich geförderten Jugendverband  – zu bekommen. Ein kräftig gebauter Herr mit dunkel getönter Sonnenbrille sitzt uns gegenüber und erklärt uns in monotonem Singsang, was der BRSM alles für die jungen Leute in Belarus macht. Auf die Frage, warum es keine anderen Jugendorganisationen gibt, die vom Staat unterstützt werden, antwortet er lakonisch, die seien doch gar nicht nötig. Es ist schon spannend, dass diesem Herrn Worte wie „demokratisches Bewusstsein“, „Freiheit“ und  „Partizipation“ genauso leicht über die Lippen kommen wie den Politikern bei uns. Wir versuchen ihn vorsichtig auszufragen und ihn auf Widersprüche hinzuweisen, doch er lässt sich – ganz nach dem Vorbild des russischen Bären – kein bisschen aus der Ruhe bringen.
Dasselbe Phänomen begegnet uns bei unserer nächsten Visite: bei der staatlichen Jugendzeitschrift „Snamja Junosti“ („Fahne der Jugend“), die uns stolz Artefakte ihrer stalinistischen Vergangenheit präsentiert (Orden!). „Was wissen Sie denn über Belarus?“ fragen die Redakteure mit einem gewissen Stolz. Unsere Antworten bringen die Dolmetscher schwer ins Schwitzen, weil wir von Pressezensur, Verfolgung unabhängiger Journalisten, Informationseinschränkung, unfreien Wahlen, gar Diktatur sprechen. Man lächelt, macht gute Mine zum bösen Spiel und erkundigt sich anschließend geflissentlich, wer uns denn eingeladen hätte und wie der Kontakt zustande gekommen sei. Ein Schatten, der dadurch möglicherweise auf unsere Partnerorganisation „Education center Post“ fallen könnte und sie schnell in Schwierigkeiten bringen kann...
Uns wird wieder mehr über dieses Land klar; vor allem auch, dass die Menschen die hiesigen Bedingungen immer mehr akzeptieren, dass es ihnen sogar gut damit geht. Schließlich bekommen sie ihre Löhne ausgezahlt, die Lebensmittelpreise sind auch stabil und der Krieg ist lange vorüber ...
Ein Krieg, der das Land zutiefst erschüttert, fast einem Drittel der Bevölkerung das Leben gekostet und die übrigen Weißrussen in die größte Partisanenbewegung des Zweiten Weltkrieges getrieben hat. Und auch heute noch bezeichnen sich viele Belarussen als Partisanen (Zitat: „Du kannst dies hier nur durchstehen, wenn du die Mentalität und das Herz eines Partisanen hast“). Ganz vorbei ist ein solcher Krieg also wohl nie …

Uns schwirrt der Kopf und wir tanzen die Nacht im Club STEP durch bis in den frühen Morgen; der Vodka und die hämmernde Technomusik tun ein Übriges, uns in wirre Träume über einen uns fremden Lebensrhythmus zu wiegen.

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