Das Jahr 2004

Da sind wir wieder in der ersten Maiwoche und bestaunen ein Land, dessen Kultur uns sehr fremd ist und in dem wir auch als Fremde bestaunt werden. Diesmal bleiben wir einen Tag länger, denn wir wollen einen der wichtigsten Feiertage der Länder im Osten Europas live miterleben: den Tag der Befreiung vom Faschismus; den Tag des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“. So viel Militarismus ist uns nicht geheuer, übt Anziehung und gleichzeitig Erschrecken aus. Große Videowände in der Innenstadt, auf denen alte Kriegsfilme gezeigt werden. Alte Frauen, die alten Männern in ordensbeschmückten Uniformen weinend Blumen reichen, Fahnen und Wimpel in der ganzen Stadt, Aufmärsche und Paraden. Häuserwände werden extra neu getüncht (zumindest entlang der Hauptstraße) und der Präsident – so munkelt man – habe extra Flugzeuge ausgesandt, um den Himmel blau zu machen. Und dann hält er auf dem Platz des Sieges eine Ansprache für das Volk . Wir gehen früh hin: Der Platz des Sieges ist rundherum abgesichert, die netten Herren vom KGB (alle mit kurzen Haaren) leiten uns mit ihren uniformartigen ausgebeulten Lederjacken freundlich aber bestimmt zu festgelegten Ausgängen. Es geht hinten über ausgetretene kleine Gassen mit versperrten Hauseingängen bis zu einem Abschnitt, an dem man sich hinstellen kann. Als Gruppe locken wir zahlreiche Leute vom Geheimdienst an, die misstrauisch um uns herumflanieren. Die Fenster der angrenzenden Häuser sind verschlossen und auf den Dächern haben sich angeblich Scharfschützen positioniert. Eine prickelnde (besser: nervöse?) Atmosphäre. Das bleibt auch so, als Lukaschenko die Bühne betritt – die Menge jubelt, vor allem die zahlreichen Schulklassen, die Fähnchen schwenken dürfen. Der Präsident spricht hehre Worte vom „Großen Mutterland“ und von „Sieg , Ehre und Pflicht“.
Anschließend wandeln wir durch den Park und schauen zahlreichen kleineren und größeren künstlerischen Darbietungen zu. Überall festlich gekleidete Menschen, Feiertags- und Freudentagstimmung. Es darf ausnahmsweise öffentlich getrunken werden, was eigentlich nicht erlaubt ist – dank eines gesundheitsfördernden Dekrets des Staatslenkers.
Ein denkwürdiger Tag; ein Volksfest, an das wir noch lange denken werden.
P.S.:
Vielleicht sollte hier noch der Besuch bei den jungen Redakteuren von CD  erwähnt werden: ein kleines Büro, in dem wir wie die Ölsardinen saßen und etwas über kreativen Widerstand gegen die Auflagen eines allmächtigen Staates zu hören bekamen. Zwei Stunden unseres Lebens, in denen wir Zeugen davon wurden, wie furchtlos man sein kann und wie unerschöpflich das Potenzial ist, mit dem die Jugend Belarus’ ihren täglichen Umgang mit den bürokratisch-autoritären Hindernissen meistert.

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